Lehrerin einer neuen Zeit by Baldini Laura

Autor:Baldini, Laura [Baldini, Laura]
Die sprache: deu
Format: epub
Herausgeber: Piper ebooks
veröffentlicht: 2020-08-09T22:00:00+00:00

Psychiatrische Klinik in Rom, August 1896

Maria saß gemeinsam mit den Kindern auf dem Boden des Schlafsaals. Sie hatte Renzis Bretter mit den drei Aussparungen mitgebracht. Gerade steckte Clarissa konzentriert die kreisförmigen Scheiben in die dafür vorgesehenen Öffnungen im Brett. Immer wieder nahm sie alle drei heraus und ordnete sie anschließend wieder zurück. Nachdem sie herausgefunden hatte, welche Scheibe in welche Aussparung passte, legte sie absichtlich eine zu kleine Scheibe in eine größere Öffnung, um sich anschließend darüber zu freuen, dass sie ihren Irrtum wieder korrigieren konnte.

Die anderen Kinder konnten kaum erwarten, auch an die Reihe zu kommen. Da Maria geahnt hatte, dass es eine Drängelei geben würde, hatte sie zusätzlich Formen aus Papier ausgeschnitten, auf ein Brett geklebt und passende Formen angefertigt, die man drauflegen konnte. Itard hatte in seinem Buch den Einsatz solcher Materialien beschrieben und immer schwierigere Symbole angeboten, bis hin zu Buchstaben. Die Papierteile hatten den Vorteil, dass sie rasch herzustellen waren. Leider waren sie bei Weitem nicht von der ästhetischen Qualität wie Renzis Bretter, außerdem gingen sie rasch kaputt.

Es war erstaunlich, wie schnell die Kinder die Aufgaben erfassten und mit welcher Begeisterung sie sie lösten. Selbst nach einer Stunde hatten sie noch nicht genug.

»Ich lasse die Materialien da«, schlug sie vor.

Doch Serafina winkte entsetzt ab. »Ich will nicht, dass es zu Streitereien kommt. Nehmen Sie das Zeug wieder mit.«

»Aber warum sollten sich die Kinder streiten?«, fragte Maria. »Wenn es klare Regeln gibt, an die sich alle halten, dann erübrigt sich der Streit.«

Serafina ließ sich nicht erweichen. »Nehmen Sie alles wieder mit. Ich bin dafür zuständig, dass die Kinder ruhig sind und brav auf ihren Betten sitzen. Ich hab keine Ahnung von dem ganzen medizinischen Kram.«

Maria gab sich nicht geschlagen. »Wenn die Kinder bloß Löcher in die Luft starren, dann vergeuden sie doch nur ihre Zeit«, sagte sie. »Sie selbst nutzen die Stunden ja auch, indem Sie stricken.«

»Das ist doch etwas anderes. Ich mache etwas Sinnvolles, denn wenn ich fertig bin, habe ich einen Schal für den Winter.«

»Genau dasselbe könnten auch die Kinder machen.«

Serafina sah sie amüsiert an. »Sie meinen, die Irren könnten einen Schal stricken? Clarissa kann nicht mal eine einfache Stopfarbeit erledigen.«

Das Mädchen senkte beschämt den Kopf.

»Das glaube ich nicht«, sagte Maria. »Ganz sicher kann Clarissa das.« Sie strich dem Mädchen liebevoll und aufmunternd über die Wange.

»Nein, ich kann es wirklich nicht«, sagte sie leise.

»Worin liegt das Problem?«

Niedergeschlagen zuckte Clarissa mit den Schultern, während Maria angestrengt nachdachte. War es bei Itard oder bei Séguin gewesen? In irgendeiner Schrift hatte sie von einem einfachen Webrahmen gelesen, der dazu diente, die Kinder auf die eigentliche Arbeit vorzubereiten. Sie musste unbedingt nach dem Artikel suchen.

»Ich verspreche dir, dass wir bei unserem nächsten Besuch mit dem Nähen beginnen«, sagte Maria. »Und bis Weihnachten kannst du ebenso schöne Schals stricken wie Serafina.«

»Wirklich?« Clarissas Stimmung hob sich wieder. Sie strahlte Maria an.

»Ja, da bin ich mir ganz sicher.«

»Geben Sie den armen Kindern keine Versprechen, die Sie nicht halten können«, murrte die Erzieherin.

»Oh, Sie werden sehen, Serafina. Clarissas Schal wird wunderschön werden.«

»Pah!« Die dicke Frau schnaufte verächtlich.

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